Nachruf

Oswalt Kolle ist tot. Er starb am 24. September 2010 und jetzt, während ich diese Zeilen schreibe, bin ich immer noch von seinem Tod ergriffen. Wir haben quasi bis zu seiner letzten Minute gemeinsam an diesem Buch gearbeitet.

Am Anfang der Zusammenarbeit gab es viele Telefonate. Dann besprach Oswalt Bänder und schickte sie von Amsterdam nach Icking, denn das Schreiben fiel ihm wegen eines Augenleidens schwer. (Die diktierten Bänder bewahre ich nun wie ein Heiligtum auf.) Nach der Diktierphase verbrachten wir einige gemeinsame Arbeitstage und gingen alle Texte zusammen durch. Das war im August 2010. Damals hatte Oswalt Schwierigkeiten mit dem Luftholen und musste zum Reden ein Sauerstoffgerät benutzen. Sein Arzt war entsetzt, wenn er uns wieder beim Arbeiten »erwischte«. Aber Oswalt war nun einmal wie ein altes Zirkuspferd. Wenn die Musik angeht, setzt es sich in Bewegung, auch wenn die Gelenke knarzen.

Die letzte Phase unserer Bucharbeit erledigten wir wieder telefonisch. Seine Tochter Nele erzählte mir später, dass Oswalts letztes langes Gespräch ein Telefonat mit mir gewesen sei und dass es ihm gutgetan habe. Ich hatte ihm beschrieben, wie das Buchcover nun aussieht. Es gefiel ihm, ja, er war Feuer und Flamme. Dann hatte ich noch eine Frage zum Buch und entschuldigte mich fast dafür, ihn mit Banalitäten zu belasten. Er entgegnete mit einer Geschichte von einer Freundin, die sich auch immerzu entschuldigte. Eines Tages rügte Oswalt sie: »Du sollst dich doch nicht mehr dauernd entschuldigen.« Sie darauf: »Oh, Entschuldigung, das habe ich ganz vergessen.«

So war er. Selbst auf dem Sterbebett munterte er Menschen noch auf. Und selbst auf dem Sterbebett sah er die Welt nicht mit der rosarot gefärbten Harmoniebrille. »Für manche Probleme gibt es keine Lösung. Wenn zwei Menschen etwas völlig Gegensätzliches wollen, muss man entweder die Differenz aushalten oder sich trennen«, meinte er. Er ging übrigens völlig gefasst aus dieser Welt. Er hatte in Holland den sogenannten Euthanasiepass erworben, der es erlaubte, im Fall von schlimmen Schmerzen bei einer hoffnungslosen Krankheit das Sterben zu erleichtern. Der natürliche Tod ist diesem Schritt dann aber zuvorgekommen. »Das selbstbestimmte Sterben« sollte übrigens das Thema unseres nächsten gemeinsamen Buches sein.

Als Motto der Trauerfeier hatte er sich ein Zitat von Rainer Maria Rilke gewünscht: »Herr: Es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.« Groß – das kann man über Oswalt Kolles Leben sicher sagen. Er hat viel bewegt. Er hat Deutschland von der sexuellen Verklemmung befreit und die »68er« eingeleitet, obwohl er mit der Rigorosität der damaligen Akteure nicht einer Meinung war. »Ein dickes Brett muss man langsam bohren«, sagte er einmal zu mir. Und: »Eine Jahrhunderte lange sexuelle Verklemmung lässt sich nicht in ein paar Jahren demonstrierter sexueller Freiheit aufbrechen«. Er selbst hat stetig daran gearbeitet, und so ist er wohl unwidersprochen zum Chefaufklärer Deutschlands geworden.

Ich bin traurig. Aber Oswalt Kolle lebt weiter. Unter anderem mit diesem Buch, das er als sein Testament und sein Erbe bezeichnet hat. Diesem Mann haben wir so viel Freiheit zu verdanken.

 

Icking, im November 2010

Beatrice Wagner

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